von Tina Wiegand
Wahrheit als Störung
Dass Individuen traumatisiert werden können, ist weitgehend bekannt. Aber Trauma kann auch einen kollektiven Charater haben. So hat Kriegs-Propaganda vielleicht über einige Jahre Erfolg und ermöglicht den Profiteuren, im Namen der Bevölkerung ihr Blutbad zu verrichten. Aber die Psyche spürt die Wahrheit und so kann es zu einem Spannungsverhältnis zwischen Psyche und Ratio kommen. Manche Menschen führt Propaganda nur in die Irre, manche Systeme jedoch in den Irrsinn, wie man in manchen politischen Umfeldern zunehmend erkennen kann. Wahrheit drängt immer ans Licht, je stärker sie verborgen wird, um so machtvoller der Versuch, sich zu befreien. Wahrheit schaut nicht darauf, welche Folgen sie hat. Sie ist einfach da und sie ist einfach wahr. Wenn sie verschleiert werden soll, dann stört sie durch Unruhe, Symptome, durch Schlaflosigkeit und Krisen, bis sie erkannt wird. Wenn das, was rational gelernt wurde, nicht zu den Gefühlen passt, die die Psyche produziert, beginnt der Mensch zu suchen. Der Spannungszustand zwingt ihn dazu. Dabei kommen auch manchmal FEHL-Deutungen heraus, die dann allerdings nur dem Spannungszustand entsprechen, aber nicht der Wahrheit. Das sind dann die Schein-Wahrheiten, die fanatisch und u.U. mit Gewalt verteidigt werden (müssen).
Staat, Vertrauen und Trauma-Reaktion
Der Staat ist ein Gebilde, das Sicherheit verschaffen sollte. Der Staat gewährt Lebenssicherheit. Geht das Vertrauen in den Staat verloren, fühlen sich viele in ihrer Existenz bedroht und verlieren das Vertrauen in alles und jeden. Wenn Gruppen von Menschen bemerken, dass der Staat, zu dem sie eigentlich gehören, sie getäuscht hat, kann das zu kollektiven Trauma-Reaktionen führen. Typische traumatische Reaktionen sind:
- rasende Aggressionen
- Flucht
- resignativer Totstellreflex
- Erstarrung – Freeze
So gesehen kann man in jedem Bürgerkrieg, ebenso wie in jedem echten Burnout (auch Erschöpfungsdepression genannt), auch eine traumatische Reaktion erkennen.
Flucht aus dem Chaos
Trauma lässt flüchten: Die Kriegs-Traumatisierten in ein anderes Land, die Retraumatisieren in Parteien. Um dem inneren und äußeren Chaos zu entgehen, sucht mancher seine Zuflucht bei neuen politischen oder religiösen Heilsversprechern, die schnelle und einfache Lösungen anbieten. Schnell ins regressive Nest, das mittelfristig aber wieder zur Falle wird – denn der Populismus behauptet mehr, als er kann und gibt wieder nur illusionäre Geborgenheit. Wer nachhaltige Lösungen sucht, muss erwachsen werden, den Stress aushalten und recherchieren, bis seine Analyse zu einer sinnvollen Diagnose führt. Erst dann, und keine Sekunde früher, beginnt die Lösungssuche. Erwachsen werden bedeutet in diesem Zusammenhang, nicht mehr auf andere zu warten, die die Probleme lösen. Es bedeutet selbst zum echten Problemlöser zu werden, der mehr kann, als sich nur den Weg freizuschießen. Das kann dauern. Doch den Stress der Erkenntnis auszuhalten und darauf vertrauen, dass die Welt ihren Untergang lange genug vertagt, ist die einzige Möglichkeit, zur tatsächlichen Wahrheit zu kommen. Wer das nicht will, hat oft mehr Meinung als Wissen.
Die Angst zu kurz zu kommen
Die Angst, zu kurz zu kommen ist in unserem reichen Land eine kollektive traumatische Hypnose. Auf den Satz „wir schaffen das“ hat dieses reiche Land mit einer unfassbaren und völlig unverständlichen Hysterie reagiert. Die Bevölkerung tut so, als stünde der Kampf um die Fleischtöpfe kurz bevor. Dabei schreit die relativ gut abgesicherte Masse der braven Bürger am lautesten. Scham geht in der Masse verloren. Hier erweist sich die vermaterialisierte Realität des künstlich erschaffenen und durch Werbung etablierten Armuts- und Mangeldenkens, das die Entscheidungen kollektiv in die Irre führt. Die Bevölkerung scheint plötzlich nur noch aus Unmenschen zu bestehen, die aus Angst vor der Verlust ihres Fleischtopfes hilflose Menschen ertrinken lassen. Doch selbst würden sich diese Menschen als „vernünftig“ bezeichnen. Die Irrationalität erwächst dem beeinflussten Kollektiv, das seit Dekaden mit Nachrichten bombardiert wird, die verunsichern und Angst machen. Fear Sells – Angst verkauft sich gut. Also wird Angst verbreitet – angemessen oder nicht, spielt keine Rolle. Vieles von dem, was uns beunruhigt, wird auch widerlegt. Aber die Relativierungen werden vom Gekreische der nächsten Sensations-Nerven-Sägen übertönt. Die Angst vor dem Verhungern gehört trotz all dem Getöse in eine Zeit, die schon lange vorbei ist. Solange wir uns modernen Ernährungswahn leisten können, sollten wir den Hungerszeiten von 1929 und 1947 eine Schweigeminute widmen, anstatt uns in erbärmlichem Gejammer zu ergehen.
Das Wanken des Landes
Der Streit darüber, ob man nun helfen könnte oder ob man untergeht, wenn man den Hilfsbedürftigen ein gutes Leben ermöglicht, bringt das ganze Land ins Wanken. Doch das Wanken eines Landes verstärkt die Traumareaktion der Bevölkerung. So, wie die Boote im Mittelmeer, schwankt bei uns die politische Situation der Regierung. Werden wir im Chaos versinken, so wie die Flüchtlinge im Meer? Selbst die Politiker streiten sich in zunehmend abstruser Weise über den Feind aus dem Mittelmeer. Doch der wahre Feind sind nicht die Flüchtlinge. Der wahre Feind liegt in der Gier, im Geiz, in der Angst zu kurz zu kommen und im Gefühlschaos, das aus dem Trauma erwächst. Diese emotionalen Faktoren verhindern im Moment noch, dass wir Lösungen für die komplexe Situation finden, in der die Welt sich kollektiv befindet. Es ist nämlich ein Irrglaube, anzunehmen, wir sässen nicht mit den Flüchtlingen auf ein und demselbten Planeten. Es kloppen sich Befürworter und Gegner gegenseitig und alles ist in Aufruhr. Das kann man zutiefst verurteilen – oder darüber nachdenken, dass auch das eine Trauma-Reaktion ist…
Trauma-Erbe, Krieg und Armutsdenken
Man muss nicht im Krieg sein, um ein Kollektivtrauma zu erleben. Unsere Gesellschaft, die noch von den Kriegsenkeln geführt wird, hat ihr Kriegstrauma geerbt – von kriegstraumatisierten Eltern und Großeltern. Trauma bleibt nicht in den Kleidern hängen. Es wird an die nächste Generation weiter gegeben. Der Krieg, die vielen Verluste und das Erkennen, welchen Riesenprofit einige wenige aus dem Blutvergießen gezogen haben, ist zu viel für die Menschen, ebenso wie die gezielt gesteuerten Hungersnöte. Es ist eigentlich zuviel für jeden, zu erkennen, dass Krieg nichts anderes als ein bombastisches Geschäft ist, das gezielt aus Profitgründen gesteuert wird. Es gibt keine nationale Schuld. Es gibt nur Profitgier – die andere Seite des Armutsdenkens. Dieses globale Armutsdenken hat nicht nur die Familien über Generationen schwer belastet. Es sorgt auch für die Ausbeutung der Erde und das Überschreiten jeglicher Vernunftsgrenzen in Form von kanzerösem Wachstumsdenken. Das Armutsdenken, das unsere Kriege steuert, zerstört auch den Planeten. Deswegen wird es Zeit, sich bewusst zu machen, wie gnadenlos gefährlich jegliche Form von Armutsdenken ist. Es gefährdet nicht nur das Leben der Flüchtlinge. Es gefährdet die Zukunft des Lebens auf diesem Planeten. Vor die Lösung hat der liebe Gott das Um-Denken gesetzt, denn das Rezept kommt vor dem Kuchen. Dazu gehört die ehrliche Selbsterforschung. Reichtum kann man sich auf Kosten anderer aneignen. Wohlstand hat jedoch etwas mit dem eigenen Wohl zu tun und das stellt sich nicht ein, wenn man Schuld auf sich lädt oder auf dem Rücken anderer seine Absicherung sucht.
Reichtum versus Wohlstand
Die Trauma-Erben des 1. und 2. Weltkrieges treffen in den Flüchtlingen die frisch Kriegstraumatisierten. Die, die kommen, triggern die unsäglichen Seelenschmerzen, die die Menschen hier versuchen, durch Sicherheit im Außen zu kompensieren. Die Erinnerung an die Kriegsursache, das große Hungern von 1929 löst bis heute schreckliche Emotionen aus. Und eigentlich ist es das, was die Menschen nicht haben wollen: dieses Entsetzen, diese Angst, diese Trauer über die Millionen von Opfern, die alle einem unvergleichlichen Profitfeldzug geopfert wurde. Die Gefühle, die im Trauma auf Körperebene gebündelt sind, sind überbordend, sind zu groß, sind wie emotionale Tsunamis, die die Seele zu überschwemmen drohen. Haben Sie schon mal von einer riesigen Welle geträumt, die droht Sie zu verschlingen? Das sind die Emotionen eines Traumas. Diese emotionale Tsunami wird auf die projoziert, die da kommen und wir glauben, sie kämen als Tsunami. Trauma ist Existenzangst und tiefste Verzweiflung. Keine Gefühle, die man gut aushalten kann. Also schiebt man sie weg – und mit ihnen die Triggermomente, in diesem Fall die Flüchtlinge. Erst wer ein Stück weit ausgeheilt ist, kann die erkennen, die nach wie vor vom Blutvergießen profitieren und den Schock ertragen, von welchen Unmenschen hier die Rede ist. Bis dahin werfen Traumatisierte Traumatisierten ihre Trauma-Reaktionen vor – irrer kann es nicht mehr werden.
Was wir brauchen
Langfristig führt diese Schieflage bestenfalls zur Wiederholung dessen, was das Trauma verursacht hat – den Wiederholungszwang des Krieges. Doch was wir wirklich brauchen sind Lösungen für die Verstrickungen von Schuld und Sühne, Rituale für die Erben von Opfern und Tätern, Distanzierung von Medien-Meinung zugunsten Selbst-Erfahrenem und Überwindung von Urteil zugunsten des Verständnisses. Niemand hat gesagt, dass das einfach ist. Aber man kann irgendwo an irgendeiner Ecke anfangen zu lernen.
In diesem Sinne mag ich noch mal auf unseren Vortrag hinweisen: Auch, wenn unsere Vorträge nicht alles abdecken können – der Sollfit Factory e.V. ist ein Puzzleteil, ein Mosaikstein im größeren Bild der Lösung vom Armutsdenken. „Trauma und Selbstentfremdung“ mit Isabel Praun und Eva Copland-Cale ist ein weiterer Wissensbissen für Sie. Wie immer ist der Vortrag kostenfrei und Anmeldung unter info@soulfit-factory.org.
2 Comments
Thanks a lot for the post.Really thank you! Much obliged.
[…] der Psychotraumatologie ist ein Trauma die Folge eine schweren Erschütterung, die als existenzbedrohlich und als Bruch in der […]