Imaginationen – wozu?
16. Mai 2019Unsere Kampagne für das Herbst Streetlife 2019
5. August 2019von Nicole Sander-Braun und Julia Mörtl
Inhaltsverzeichnis
Unser Universum und wir
Die Welt ist komplex. Komplexer als wir sie in unserem eigenen Universum sehen können. Was heißt das? Wir beurteilen die Dinge, sagen ob etwas richtig oder falsch ist, ob etwas uns gefährdet oder nicht. Eine Schublade wird geöffnet und, schwupps, bist du drin und siehst nur noch das Innere der Schublade. Das ist einfach und macht die Welt erträglicher und leichter zu verstehen. Das mögen wir. Und unser Gehirn auch. Dann kann es sich wieder zur Ruhe legen und alles bleibt wie zuvor.
Doch wollen wir das wirklich oder unterdrücken wir nur die Angst und das Unwohlsein, das aufkommt, wenn wir uns mit den Themen außerhalb unseres Mini-Universums auseinandersetzen? Hätten wir da nicht gerne jemanden der uns sagt, das ist richtig, das falsch und in diese oder jene Richtung musst du gehen? Eine Orientierungsperson, einen Anführer?
Orientierung Greta
Da ist Greta Thunberg willkommen. Wir haben endlich wieder eine Richtung in die wir stapfen dürfen. Jetzt ist Klima dran. Schublade auf, rein und Schublade zu.
Ruhe!
Endlich wieder.
Komfortzone.
Gott sei Dank, dass Greta aus Schweden kommt und dazu noch eine Frau ist, sonst hätten wir jetzt wieder ein neues Problem.
Sie merken schon, wir müssen die Dinge ein wenig aufs Korn nehmen und hoffen, Sie verzeihen uns.
Haben Sie schon mal versucht, alle ihre Schubladen gleichzeitig aufzumachen? Was für ein Spaß, jedenfalls ist das der erste Gedanke. Gefolgt von einem Gefühl von: oh, mein Gott, wie kann es gehen? Ohnmacht. Ein grusliges Gefühl, dem wir sehr gerne aus dem Weg gehen. Unser inneres Kind hat sich ganz schlaue Mechanismen ausgedacht, um diese Ohnmacht nicht aushalten zu müssen. Aktivismus ist eine davon. Hauptsache machen. Wir denken uns: „Ich mach ja schon” oder “ich mache doch die ganze Zeit“. Wir fragen nicht mehr, ob es Sinn macht, was wir machen. Also machen wir jetzt Klima. Und ohne zu behaupten, dass das der falsche Weg ist, ist es doch nur eine Schublade und dient der Beruhigung. Denn wenn ich nicht mache, kommt dieses tiefe Gefühl von Ohnmacht. Das mag keiner. Denken Sie je darüber nach, was Sie alles machen, um Ihre Ohnmacht nicht fühlen zu müssen? Halten Sie doch einen Moment inne und denken Sie darüber nach.
Macht ist eine knifflige Sache
Mächtig sind eigentlich immer die anderen. Und die, die mächtig sind, sind meistens auch böse. Das heißt, wenn wir nicht mächtig sind, gehören wir wenigstens nicht zu den Bösen. Trotzdem ist Ohnmacht unangenehm, dürfen wir also die Schublade, in der wir sitzen, noch ein wenig vergrößern?
Wie stehen Sie zum Thema Macht? Spüren Sie mal nach, wie ihr Körper gerade darauf reagiert und welche Assoziationen Sie dazu haben? Was wurde Ihnen über das Thema Macht beigebracht? Geht es Ihnen ähnlich wie uns, wurde Ihnen in der Schule auch beigebracht, dass Macht etwas Negatives ist?
Verwechseln Sie Macht automatisch mit Machtmissbrauch?
Dann ist „Ohn(e)macht“ natürlich besser als mächtig. Wir erlauben uns hier wieder etwas unbequem zu sein: Solange wir glauben, dass wir die besseren Menschen sind und damit unsere Ohnmacht pflegen, kommen wir schließlich nicht auf dumme Gedanken, wie etwa in die Schublade der Mächtigen zu wechseln.
Der Moralschlüssel
Solange wir glauben, dass Macht etwas Negatives ist, sperren wir unsere Schublade mit einem Schlüssel zu, der Moral heißt. Wir können den Schlüssel nicht einmal wegwerfen, denn wir haben die Schublade von innen zugesperrt. Und da sitzen wir nun, mit dem Schlüssel der Moral in der Hand und unserer Ohnmacht und freuen uns zumindest darüber, dass wir gute Menschen sind. Bestenfalls schimpfen wir dann in Richtung der Mächtigen und halten das für Meinungsfreiheit.
Dürfen wir jetzt noch etwas ketzerisch werden? Wer hat etwas davon, wenn wir in der Schublade der Machtlosen sitzen?
Atmen Sie ganz tief durch und lassen wir ein wenig Licht in die Schublade. Was fühlen Sie, wenn Sie als deutscher oder österreichischer Leser an die Macht der Deutschen denken? Sie werden uns Recht geben: Das geht gar nicht. Kommt nicht in die Schublade. Und so ist die Schublade schneller wieder zu, als Licht reinkommen konnte.
Wir einigen uns darauf, dass andere Nationen besser sind als wir, manchen ist es sogar unangenehm zu sagen, dass sie Deutsche sind, denn Deutsche gehören zu den Bösen. So haben wir nur eine Chance gut zu sein, indem wir zumindest machtlos sind. Also sitzen wir in der Schublade, weil unsere Vorfahren Deutsche waren.
Die Beeinflussung der Teenager
Mit 14 oder 15 Jahren weiß man noch nicht so richtig, wer man denn ist, hat zu große Hände und zu große Füße, vielleicht auch Pickel und alles ist peinlich. Die Eltern werden komisch und irgendwie ist die Welt schwierig. Vielleicht ist man zum ersten Mal verliebt oder gar unglücklich verliebt. Uns wurde in dem Alter ein Konzentrationslager gezeigt, um uns dort die Horrorbilder anzusehen und uns mit der deutschen Geschichte auseinanderzusetzen, gefolgt von dem Satz: „Das darf nie mehr passieren“.
Der junge Mensch hört zum ersten Mal vom Führer, der so mächtig war, dass er es geschafft hat, die Welt in den Krieg zu stürzen. Es gibt viele Führer in der Welt, aber über niemanden spricht die Welt so häufig wie über diesen einen mächtigen ultrabösen Führer. Mit dem Satz: „Das darf nie wieder passieren“ ist es vollkommen klar, dass er in eine andere Schublade gehört als wir. Keiner darf und will so sein wie er – und wir schon gar nicht.
Die erschrockenen Jugendlichen, die bereits aufgrund Ihrer Nationalität schuldig sind, werden erwachsen. Überprüfen Sie das bitte für sich, wahrscheinlich kennen Sie diese Sätze: Wir sind schuld. Wir müssen verhindern, dass das wieder passiert. Bei genauerer Betrachtung hat diese Thematik einen großen Einfluss auf unser Erwachsenenleben, insbesondere wenn es um Führung geht.
Wie geht es Ihnen heute mit dem Begriff Führung? Ist Führung etwas Positives oder Negatives? Denken Sie dabei an „Den Führer“?
Überprüfen Sie bitte, ob Sie das heute noch aus der Sicht des 14-jährigen Jugendlichen sehen, denn das Schuldtrauma lebt in Ihnen weiter, wie in allen anderen auch.
Wenn diese Schuld nun mit dem Thema Führung gekoppelt ist, lehnt ein Teil der Persönlichkeit Führung ab, auch wenn ein anderer Teil Anspruch auf Führung erhebt. Das ist ein großes Dilemma, dass sich in Politik, Wirtschaft, im Privaten wie auch in der Schule widerspiegelt.
Unterschiedliche Perspektiven
Als Mutter und Lehrerin erleben wir das aus verschieden Perspektiven.
Wenn ein Teil von uns das Thema ablehnt, beginnen unsere Kinder zu führen. Das geschieht in der Familie, wie auch in der Schule.
Nicole Sander-Braun: Als Mutter und Geschäftsführerin der Psychosophic Consultants berate ich Führungskräfte auf der ganzheitlichen Ebene und stelle dabei immer wieder fest, mit welchen Herausforderungen sie im Familienleben konfrontiert sind, wenn das Thema Führung nicht integriert ist.
Julia Mörtl: Als Lehrerin in der Schule begegne ich Eltern, die mit dieser Thematik kämpfen und nehme wahr, dass auch bei Lehrern, die ein gespaltenes Verhältnis zu Führung haben, Schüler aus dem Ruder laufen.
Wenn in unserem Kopf ein Verbot des „inneren Führers“ besteht, und Führung mit Schuld gekoppelt ist, darf Aggression nicht sein, Wut nicht sein und wehren dürfen wir uns auch nicht mehr. Wir unterdrücken unsere Gefühle. Und üben uns in nicht endender Toleranz.
Was heißt das für die Erziehung der Kinder? Wir haben für alles Verständnis, unterdrücken parallel unsere Wut und unsere Aggression und führen nicht, sondern erklären den Kindern die Welt, unsere Schublade. Das geht soweit, dass wir uns dabei selbst schaden. Wir müssen so viel Energie aufwenden, um unsere negativen Emotionen zu unterdrücken, dass wir in der kompletten Erschöpfung landen. Die schieben wir dann ganz gerne unserer Arbeitsbelastung im Job zu und beruhigen uns durch Yoga oder andere sportliche Aktivitäten.
Kinder an die Macht?
Da wir unserem Kind nur den Inhalt der eigenen Schublade erklären können, besuchen wir die anderen Schubladen nicht, zumindest nicht solange wir den Schlüssel der Moral in der Hand halten, mit der wir uns eingesperrt haben. Schon gar nicht, wenn auf der anderen Schublade Führer oder Macht stehen.
Bei unseren Kindern kommt dann folgendes an: Grrrsksgwö_JHF§%&. Logisch oder? Unser Verbot, den inneren Führer zu integrieren, führt zu paradoxer Kommunikation und zu einem Wirrwarr in den Köpfen unserer Kinder. Wir verhalten uns nicht authentisch und wundern uns dann über die Reaktionen der Kleinen, die aus Verzweiflung das Steuer übernehmen. Aber wie geht es Ihnen mit einem 8-jährigem am Steuer, der mit 180 km/h über die Autobahn rast, der selbst die Situation nicht abschätzen und Leitplanken nicht kennen kann? Da steigt der Puls schon gewaltig an. „Kinder an die Macht“ hat schon Herbert Grönemeyer gesungen, doch wenn ein Kind an der Macht ist, darf und kann es dann noch Kind sein? Aus unserer Sicht nicht. Volljährigkeit mit 21 hatte einen Sinn, denn ein Kind kann die Konsequenzen seines Tuns nicht komplett abschätzen, da der zuständige Teil des Gehirns, der Neokortex, noch gar nicht vollständig ausgebildet ist. Das bedeutet aber, dass wir unsere Kinder schon sehr früh emotional überfordern. Diesen Aspekt blenden wir häufig aus. Denn an anderer Stelle werden die Kinder unterfordert. Was vollkommen unterschätzt wird, ist, wie gut es tut gefordert zu werden. Das gibt Zufriedenheit und Stolz: „Guck mal Mama, was ich kann“. Aber wir sehen viele Kinder, die mit 8 Jahren noch immer nicht mit Messer und Gabel essen können, oder sie aus Elternsicht nicht in der Lage sind, alleine die Straße zu überqueren oder sich an alltäglichen Hausarbeiten zu beteiligen.
Ratgeber und wir
Durch die vielen Ratgeber, die wir alle zur Verfügung haben, möchten wir nichts falsch machen und das beste Lernfeld für unser Kind schaffen. Doch sollten wir nicht lieber dem Kind beibringen, im Dschungel zurechtzukommen als den Dschungel für das Kind abzuholzen und daraus einen Streichelzoo zu machen? Moderne Eltern betten ihr Kind in Watte, die es gar nicht benötigt und überwachen es gleichzeitig, doch damit wird jegliche freie Entfaltung des Kindes unterdrückt. Wir haben schon lange vergessen, dass organisches Wachstum am gesündesten ist. Das gilt auch für das Kind. Wenn ein Kind darauf angewiesen ist, dass seine Eltern aus allem einen Streichelzoo machen, wird es im Leben nur schwer zurechtkommen. Denn wie geht es ihm dann im Dschungel Leben?
Wenn Sie Ihre eigene Führungskompetenz ablehnen, trauen Sie Ratgebern mehr als Ihrer eigenen Intuition. Doch damit geben Sie eine Ihrer wertvollsten Charaktereigenschaften auf. Denn es muss uns bewusst sein, dass wir immer führen, auch wenn wir nicht führen wollen. Die Frage ist nur wohin? Momentan ist das Ergebnis eine Generation von Helikoptern, die über den Kindern kreisen und sie überwachen. So wird den Kindern das bereitet, was Sie im Innersten ablehnen: Regimestrukturen. Und so stellen wir fest: Nicht-Führung macht die Welt auch nicht besser.
Was Eltern tun können
Haben Sie Lust auf ein kleines Experiment? Stehen Sie doch mal auf und sagen Sie: „Ich bin eine machtvolle Führungspersönlichkeit?“
Wie ist es Ihnen damit ergangen? Haben Sie weitergeatmet?
Welche Gedanken kommen Ihnen dazu? Notieren Sie sich diese Gedanken, ohne sie gleich zu bewerten. Üben Sie das gerne täglich. Das ist ein Einstieg, um sich dem Thema Führung zu nähern.
Führen bedeutet Verantwortung zu übernehmen, also Antworten zu geben. Antworten geben heißt nicht, dass die Führungskraft – Mutter oder Vater – alles wissen muss, stattdessen ist es wichtig, sich und anderen viele Fragen zu stellen:
In welcher Schublade stecke ich gerade? Unterscheide ich zwischen Moralisieren und Ethik? Bin ich mir sicher, dass ich immer richtig liege? Wo bin ich ver-wickelt und wo muss ich mich ent-wickeln? Kann ich mir Fehler auch eingestehen? Wie gehe ich selbst mit meinen Fehlern um? Und mit denen der anderen? Gehe ich sorgsam mit mir um? Wo ist meine Grenze erreicht? Wie stark werde ich von meinem Unbewussten geführt? Welche Lebensaspekte möchte ich alle betrachten? Was will ich in meinem Leben erreichen? Was begeistert mich? Was ist mein erweiterter Lebenserfolg? Wie sieht meine Vision aus? Was muss ich deshalb lernen? Was braucht die Gesellschaft und was kann mein Beitrag dazu sein?
Während Sie sich diese Fragen stellen, lassen Sie schon ein wenig Licht in Ihre Schublade, und damit Sie nicht ganz allein sind mit den vielen Fragen, können wir empfehlen, Ihren Partner dazu einzuladen und gemeinsam einen inspirierenden Abend zu verbringen. Sollten Sie an dem einem oder anderem Thema hängenbleiben, ist eine Supervision hilfreich. So verschiebt sich der Fokus, weg vom Kind, hin zur Verantwortung für das eigene Leben und die eigene Persönlichkeitsentwicklung. Das ist entlastend für das Kind und bereichernd für die Partnerschaft. Kinder brauchen Vorbilder, die gerne dazu lernen und Orientierung geben können, keine Bediensteten.
Deshalb sind die Lehrer natürlich unsere Hoffnungsträger.
Das Kind in der Schule
Wenn das Kind in die Schule kommt, wird ein großer Teil seines Lebens von den Lehrern bestimmt. Deshalb macht es Sinn, sich die Rolle des Lehrers als solches anzuschauen, eine Rolle, die sich in den letzten Jahren sehr verändert hat und die aus nicht immer leicht vereinbaren Facetten besteht. Bevor Sie jetzt weiterlesen, überlegen Sie gerne kurz, was Sie persönlich als die wichtigsten Aufgaben eines Lehrers sehen.
Allem voran unsere Hypothese: Authentische Lehrer werden von Kindern ernster genommen. Die große Kunst ist es, authentisch zu bleiben, trotz der unterschiedlichen Anforderungen seitens der Schüler, der Kollegen, der Chefs, des Ministeriums und der Gesellschaft. Als authentischer Lehrer kann ich, eine gute und stabile Beziehung zu den Schülern herstellen, die ein entspanntes Lernen erst möglich macht.
Geht es Ihnen als Eltern auch heute noch so, wenn Sie eine Schule betreten, dass viele Erinnerungen an die eigene Schulzeit wieder kommen? Wie fühlen Sie sich, wenn Sie beim Elternabend wieder am Schultisch sitzen und einem Lehrer zuhören müssen?
Egal ob Eltern oder Lehrer, Sie können sich sicher auch noch daran erinnern, welcher Lehrer oder welche Lehrerin Sie selbst begeistern und motivieren konnte, obwohl Sie sein oder ihr Fach eigentlich nicht wirklich spannend fanden. Und wahrscheinlich können Sie sich mindestens genauso gut daran erinnern, bei welchem Lehrer es Ihnen vor der Stunde gegraut hat und Sie das Fachgebiet eigentlich heute noch nicht mögen – selbst wenn es nicht ursprünglich am Fach als solches lag. Wenn Sie feststellen, wie wichtig für Sie selbst eine stabile Lehrer-Schüler Beziehung war und wie unangenehm es war, wenn diese fehlte, ist das für die Kinder heute mit Sicherheit nicht anders.
Junge Menschen zu begleiten ist eine große Verantwortung. Wenn wir uns die verschiedenen Rollen anschauen, die Lehrer einnehmen müssen, sehen wir, dass wir als Lehrer nicht nur reine Lernbegleiter sind, die Wissen vermitteln und Prüfungen vorbereiten. Unsere Aufgabe geht darüber hinaus. Wir sind Lebensbegleiter und damit automatisch Führungspersonen.
Lehrer als Lebensbegleiter
Als Lebensbegleiter stellt sich dann die Frage: Was hat in welcher Situation Vorrang? Ist im Augenblick der Raum da, die Klasse auf Proben oder Abschlussprüfungen vorzubereiten und ihnen Vokabeln und Grammatik beizubringen oder gibt es einen Gruppenkonflikt innerhalb der Klasse, der geklärt werden muss? Geht es gerade bei einzelnen Kindern oder Jugendlichen nicht um den neuen Text im Buch, sondern viel mehr um Lebensbegleitung und ein offenes Ohr nach der Stunde? Müssen wir Lehrer uns fragen, warum das Kind oder der Jugendliche sich nicht konzentrieren kann? Hat er Liebeskummer, oder muss sie umziehen? Lassen sich die Eltern scheiden oder fühlt sich der große Bruder verantwortlich für seinen kleinen Bruder, der gerade nichts als Ärger macht?
Wir finden, dass Lehrer, die sich als Führungskraft verstehen, den Schülern Antworten geben müssen. Das heißt nicht, dass ich als Lehrer sofort das Problem lösen muss. Es heißt aber Verantwortung zu übernehmen und zu entscheiden, was es als nächsten Schritt braucht. Das ist Führung.
Nur so ist die Lehrkraft authentisch und kann dem Anrecht der Schüler und Schülerinnen auf Sachwissen und ihrem Bedürfnis nach Orientierung im Leben gleichermaßen gerecht werden.
Lebensbegleitung und Noten
Bei den Lehrern spielt auch noch eine weitere Komponente eine Rolle. Alle Lehrer müssen Noten nach gewissen Vorgaben geben. Im guten Sinne, um den Schülern Feedback zu ihrer Leistung zu geben, damit die Kinder und Jugendlichen sehen wo sie stehen und so in dem jeweiligen Fach auch besser werden können. Im negativen Sinne dienen Noten häufig als Instrument, um das Kind in eine Schublade einzusortieren. Ist das Kind – gerade in Bayern – gut genug für den Übertritt ins Gymnasium? Ist genau diese eine Deutschprobe letztlich ausschlaggebend für die Entscheidung, in welche Schule das Kind nach der Grundschule gehen wird? Ist später dann genau diese eine Referatsnote in Geschichte die Rettung auf die Note Vier, damit das Jahr bestanden wird? Reicht die Mathenote in der Oberstufe des Gymnasiums dafür, nach dem Abitur den begehrten Studienplatz in Psychologie zu bekommen?
Das alles bedeutet Stress für das Kind und auch für die Eltern, die dann häufig das Kind nicht entlasten können, sondern noch mehr Druck in das System geben. Es entsteht eine kollektive Hysterie und Stress bei Eltern, Schülern und Lehrern.
Da ich als Lehrkraft der Meinung bin, dass ich Lebensbegleitung bin, stellt sich natürlich hier die Frage: Wie kann ich den Schüler vertrauensvoll in solch einer Situation unterstützen? Besonders, wenn er sich ungerecht behandelt fühlt, da ich zum Beispiel diejenige bin, die ihm in Englisch ständig in roter Farbe sagt, dass er ungenügend ist?
Was können Lehrer tun?
Dass jemand in einem Fach eine ungenügende Leistung bringt, hat nichts mit dem Schüler als Person zu tun. Trotzdem weiß ich natürlich als Lehrkraft, dass es den Schüler im momentanen Bildungs- und Arbeitssystem unter Umständen am Weiterkommen hindert. Was kann ich also als Lehrer diesem Kind als Orientierung an die Hand geben?
Gerade Lehrer haben häufig das Gefühl, alles wissen zu müssen. Es geht nicht darum, die perfekte Lösung aus dem Hut zu zaubern, sondern den nächsten Schritt zu unterstützen. Es muss geklärt werden, was jetzt zu tun ist. Wer muss mit ins Boot? Wie werden die Eltern eingebunden? Was gibt es für Alternativen, wenn der momentane Weg nicht funktioniert? Auf diese Weise übernimmt der Lehrer Verantwortung und entlastet dabei Schüler und auch die Eltern.
Wenn der Lehrer einen Zwiespalt bezüglich des Themas Führung hat, wie schon vorher bei den Eltern beschrieben, entsteht ein Konflikt und die Schüler fühlen sich alleine gelassen und sind unter Umständen verwirrter als zuvor.
Aus diesem Grund muss sich der Lehrer genau wie die Eltern mit dem Thema Führung aussöhnen. Nur dann kann er oder sie authentischer Lernbegleiter sein. Hier ist es wichtig, sich genau wie die Eltern viele Fragen zu stellen: Wie will ich als Lehrer wirken? Was ist meine Wertehaltung? Welche Werte will ich vermitteln und welche Werte vermittle ich wirklich? Wie ist meine Einstellung zu Fehlern, zu meinen eigenen und denen der anderen? Kann ich mir Fehler auch eingestehen? In welcher Schublade stecke ich gerade? Unterscheide ich zwischen Ethik und Moralisieren? Bin ich mir sicher, dass ich immer richtig liege? Wo bin ich ver-wickelt und wo muss ich mich ent-wickeln? Was will ich in meinem Leben erreichen? Was ist meine Vision? Was muss ich deshalb lernen? Wie geht es mir selbst mit Lernen? Was brauchen die Schüler und was kann mein Beitrag dazu sein?
Wenn ich als Lehrer authentisch sein will, bin ich mir bewusst, wie wichtig ich für das Lernumfeld der Schüler bin und werde diese Fragen in Supervision und Selbsterfahrung für mich klären.
So verschiebt sich der Fokus, weg von den Noten hin zur Verantwortung den Kindern einen optimalen Rahmen für entspanntes Lernen zu bieten.
Austausch, Feedback und Fehlerkultur
Wenn wir reflektieren und unsere Persönlichkeit weiter entwickeln, lernen wir ständig dazu. Nur wer selber gerne lernt, ist ein gutes Vorbild. Führung bedeutet nicht Diktatur. Führung bedeutet auch nicht andere zu kontrollieren, weil ich mit den eigenen Gefühlen nicht umgehen kann oder jemanden zu etwas zu zwingen, weil ich selbst sonst Stress bekomme, sondern die Schublade zu öffnen, den Moralschlüssel abzugeben, und unsere Kinder fit für den Dschungel zu machen. Um win-win-win Situationen für Eltern, Lehrer und auch Kinder zu schaffen, braucht es für Eltern und Lehrer Selbstreflexion, Supervision und Austausch untereinander. Die Welt heute ist zu komplex, um mit den Herausforderungen alleine umzugehen.
Eine reflektierte Führungspersönlichkeit wird weniger in die Versuchung des Machtmissbrauchs kommen, sondern eher die eigene Machtposition im Sinne des großen Ganzen einsetzen. Erst dann kann jeder von uns die Verantwortung für sein eigenes Leben tragen und es aktiv gestalten. Nur wer sein eigenes Leben führt, kann auch andere führen, sei es Kinder, Mitarbeiter oder gar den Chef.
Weiterführende Literatur:
Bentzen, Marianne. 2016: Das neuroaffektive Bilderbuch
Cameron, Julia. 2009: Der Weg des Künstlers
Hüther, Gerald. 2019: Würde. Was uns stark macht – als Einzelne und als Gesellschaft
Hüther, Gerald, 2010: Mit Freude Lernen
Juul, Jesper. 2018: Nein aus Liebe, Klare Eltern-Starke Kinder
Wiegand, Tina. 2018: Die Lotuszeit: Reflexion und Selbstcoaching mit dem Wiegandschen Lotus
Wiegand, Tina. 2019: Das Lotusbuch oder ich bremse auch für Führungskräfte